Theorie:

Im zaristischen Russland war die Industrialisierung noch nicht so weit fortgeschritten, dass - wie im Westen - Massen aus dem Proletariat für die Übernahme der von Marx und Engels entwickelten Ideen vorhanden gewesen wären. Russland war vielmehr auch noch am Beginn des \(20\). Jahrhunderts ein reiner Agrarstaat: mehr als \(80\) % der Bevölkerung lebten von bäuerlicher Arbeit, meist in drückender Abhängigkeit von Großgrundbesitzenden.
 
Der russische Sozialismus war damals bloß ein Anliegen von Intellektuellen, Literaten und Kleinadeligen. Eine proletarische Revolution schien in Russland daher schon von der Basis her mehr als unwahrscheinlich.
 
So waren sogar Teile der russischen Sozialismusfraktion davon überzeugt, dass Russland zuerst die kapitalistische Entwicklung des Westens nachholen müsse, bis hier die Entstehung einer breiten proletarischen Schicht das Übergreifen einer etwaigen Revolution im Westen auf Russland ermöglichen würde.
 
Dieser Auffassung trat ein Mann entgegen, der das weitere Schicksal Russlands auf Jahrzehnte hinaus bestimmen sollte: Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin. Er war es, der den Gedanken eines Zusammengehens der ausgebeuteten bäuerlichen Massen mit den Arbeitern (daher das Parteisymbol: Hammer und Sichel) und damit doch die Möglichkeit einer Revolution auch ohne vorheriges Entstehen eines breiten Industrieproletariats vertrat.
 
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Lenin (1870 - 1924)
 
So bereitete sich schon um die Jahrhundertwende die tief greifende Spaltung des Weltsozialismus vor; auf dem Parteitag der russischen Sozialdemokratie von \(1903\) zeigte sich bereits deutlich die Flügelbildung:
 
  • Eine Minderheit, nach dem russischen Wort für "weniger" (mensche) Menschewiken genannt, trat für eine langsame Umgestaltung der Gesellschaftsverhältnisse durch den Druck der für den Sozialismus gewonnenen Massen auf ihre Regierungen ein.
     
  • Demgegenüber stand die von Lenin geführte Parteitagsmehrheit, nach dem russischen Wort für "mehr" (bolsche) Bolschewiken genannt. Diese strebten eine sofortige radikale Änderung der Gesellschaftsordnung durch eine kommunistische Revolution an. Ziel einer solchen Revolution wäre eine klassenlose Gesellschaft. Die Revolution in Gang bringen sollte eine disziplinierte Kaderpartei von Berufsrevolutionären.
Die verschiedenen revolutionären Gruppen und die weit verbreitete Unzufriedenheit mit den herrschenden Verhältnissen schufen in Russland ein Klima dauernder Spannungen: Streiks, Attentate auf den Zaren und nationale Erhebungen nichtrussischer Völker erschütterten Russland in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg.
 
Die russische Niederlage im Krieg mit Japan \(1905\) löste, verbunden mit den sehr schlechten Lebensbedingungen, bereits \(1905\) eine Revolution aus:
 
In den großen Städten wählten die Arbeiter spontan Vertretungen (russisch: Sowjets = Räte). Als sich die Streikbewegung zum Generalstreik entwickelte und der Moskauer Sowjet zum bewaffneten Aufstand aufrief, schlugen jedoch zarentreue Regimenter den Aufstand nieder.
 
Unter dem Eindruck dieser Ereignisse war zwar Zar Nikolaus II. (\(1894\) bis \(1917\)) gezwungen worden, eine Verfassung zu erlassen, welche die Errichtung einer Volksvertretung, der Duma, einschloss; diese hatte allerdings nach der Niederwerfung der Revolution keinerlei politische Rechte mehr; die politische Opposition wurde nun stärker denn je unterdrückt, die Sowjets wieder aufgelöst.
 
Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges (\(1914\)) trat in Russland wie in allen beteiligten Staaten zunächst jene Kriegsbegeisterung auf, die die inneren Gegensätze vorübergehend zurücktreten ließ. Diese Begeisterung aber klang rasch ab: die Anfangserfolge der Mittelmächte (Militärbündnis zwischen dem Deutschen Reich, Österreich-Ungarn und später auch dem Osmanischen Reich und Bulgarien) - verbunden mit großen territorialen Einbußen für Russland -, die schweren Menschenverluste an den Fronten und dazu die rapide Verschlechterung der Versorgungslage verstärkten bei der enttäuschten Bevölkerung rasch den Eindruck, der Zar und die Regierung hätten versagt.
 
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Zar Nikolaus II. mit seiner Frau und seinen Kindern 1913
 
So führte die Forderung der kriegsmüden Massen nach Frieden, Land und Nahrung schließlich im Februar \(1917\) zu einer bürgerlichen Revolution (Februarrevolution). Der Zar versuchte, Truppen von der Front gegen die Aufständischen einzusetzen, doch fast alle Soldaten liefen zu den Revolutionären über. Schließlich wurde Zar Nikolaus II. zur Abdankung gezwungen und bald darauf mit seiner gesamten Familie ermordet.
 
Russland war damit zu einer Republik geworden.
 
Die Regierungsverantwortung fiel nun den Parteien des Bürgertums und den so genannten Sozialrevolutionären unter Kerenski zu, der vor allem für eine gerechtere Bodenverteilung zu Gunsten der verarmten Bauern eintrat.
 
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Alexander Kerenski, Anführer der Sozialrevolutionäre
 
Trotz des Friedenswillens des Volkes wurde jedoch der Krieg auf Seiten der Entente (Die "Triple Entente" war ein Bündnis zwischen Frankreich, dem Vereinigten Königreich und Russland) fortgesetzt. Dessen katastrophale Folgen, besonders im Hinblick auf die Ernährung der Bevölkerung, wurden nun immer deutlicher sichtbar. Damit aber stieg die Popularität der Bolschewiken, die immer nachdrücklicher den sofortigen Abschluss eines Friedensvertrages verlangten.
Lenin aber befand sich zu diesem Zeitpunkt mit der ganzen Führung seiner Partei im Exil in der Schweiz und konnte zunächst in Russland nicht eingreifen.
 
Da fasste der deutsche Generalstab den Plan, Lenin und seinen Stab heimlich nach Russland zu bringen. Ausschlaggebend hiefür war natürlich nicht politische Sympathie für die revolutionären russischen Kommunisten, sondern vielmehr die Hoffnung, damit den Krieg im Osten beenden zu können, um sodann die im Osten freigewordenen deutschen Soldaten an der West- und der Südfront einsetzen zu können.
 
Lenin, Führer der Bolschewiken, war der Meinung, im Agrarstaat Russland könne es auch ohne vorherige Industrialisierung und Proletariat zu einer kommunistischen Revolution kommen. Ihm gegenüber standen die Menschewiken unter Alexander Kerenski, die sich für eine langsamere Transformation des politischen und wirtschaftlichen Systems einsetzten.
 
Quellen:
Roland, Peter: GESCHICHTE. Lehrbrief. Wien: Dr. Roland GmbH, 2015, 9. Auflage
Lenin: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Lenin_1920.jpg (20.12.2022)
Zar Nikolaus II. mit Gattin und Kindern: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Family_in_1913.jpg (18.06.2016)
Alexander Kerenski: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Alexander_Kerensky_LOC_24416.jpg (18.06.2016)