Theorie:

Gerhart Hauptmann (1862 - 1946)
Gerhart Hauptmann gilt als größter Dichter des deutschen Naturalismus. Geboren wurde er am 15. November 1862 als zweiter Sohn eines Gasthofbesitzers in dem schlesischen Badeort Salzbrunn , sein Großvater war ein armer Weber gewesen.
 
Ursprünglich wollte der junge Hauptmann Bildhauer werden und studierte in Breslau, verließ aber nach zwei Jahren seinen Meister und besuchte die Universität Jena, um dort bei Haeckel die modernen naturwissenschaftlichen Ideen in sich aufzunehmen.
 
Seine Bildung vervollständigte er schließlich an der Berliner Universität. Dort kam er in Verbindung mit den Naturalisten Kretzer, den Brüdern Hart, mit Arno Holz und Johannes Schlaf, und damit erwachte sein Interesse für das naturalistische Drama.
 
Die ersten dichterischen Versuche fallen in diese Zeit: das Epos "Promethidenlos", die Novelle "Bahnwärter Thiel" und das Drama "Vor Sonnenaufgang". Die beiden letztgenannten Werke begründeten den Ruhm Hauptmanns als Dichter, und bald stand der Dramatiker Hauptmann an der Spitze der neuen Geistesströmung des Naturalismus.
 
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Mit seiner vorzüglichen, wahrheitsgetreuen Milieuzeichnung und später auch mit der immer mehr in die seelischen Feinheiten eingehenden psychologischen Charakterdurchleuchtung erregte der Dichter ungeheures Aufsehen.
 
Seine gewaltigen Werke übertönten die Stimmen der zahlreichen Gegner, er setzte sich allen zum Trotz durch und gewann 1912 auch die Anerkennung der Welt: den Nobelpreis für Literatur.
 
Mit der Zeit eroberte sich Hauptmann die neue Literaturströmung des Symbolismus. Parallel zum dramatischen Schaffen entstanden auch eine Anzahl Romane und Novellen, die aber nicht die Bedeutung von Hauptmanns Dramen erreichten.
 
Nach den erbitterten Kämpfen im Jahr 1945 kam Hauptmanns schlesische Heimat an Polen, um am 6. Juni 1946, noch mitten im Chaos einer zerbrochenen Weltordnung, schloss der 84-jährige Dichter die Augen für immer.
 
Mit Gerhart Hauptmann verschied nicht nur einer der besten deutschen, sondern auch einer der bedeutendsten Dramatiker der Weltliteratur, der dem Theater eine Fülle bühnenwirksamer und mitreißender Werke, den Schauspielern eine Reihe von dankbaren Rollen geschenkt hat.
 
Der Einfluss seiner Persönlichkeit und seines ungemein reichhaltigen Schaffens auf die nachfolgenden Dichtergenerationen ist kaum absehbar. Wenn auch der Dichter Zeit seines Lebens sehr angefeindet wurde, so gehört er doch zweifellos neben Goethe, Schiller und Grillparzer zu den bedeutendsten Dramatikern deutscher Zunge.
 
Das Lebenswerk Hauptmanns ist schwer zu überschauen, im folgenden liegt der Fokus auf wichtigen naturalistischen Werken.
 
 
"Bahnwärter Thiel"
(Novelle, 1887)
 
Der brave, fleißige Bahnwärter Thiel trauert seiner früh verstorbenen Gattin schwermütig nach, aber sein kleiner Haushalt, sein Dienst und vor allem sein Söhnchen Tobias zwingen ihn, sich ein zweites Mal zu verehelichen. Im Gegensatz zu der ersten Frau, die still und zart war, ist Lene ein derbes, herrschsüchtiges Weib und tyrannisiert bald ihren Mann, der in Wehmut an seine verstorbene Gattin denkt, und den kränkelnden Tobias, ein geistig ein wenig zurückgebliebenes Kind.
 
Als Thiel erleben muss, wie sein Kind, das niemals Liebe bei der Stiefmutter gefunden hat, nun wegen der mangelnden Obsorge unter die Räder des Zuges gerät, erschlägt er wahnsinnig vor Schmerz seine Frau und ihr Kind und wird in eine Irrenanstalt eingeliefert.
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Diese Erzählung stellt ein Muster naturalistischer Kunst dar und zeichnet sich besonders durch die feine Schilderung der Seelenzustände der Hauptpersonen aus.
 
Dramen
Nach dieser Novelle widmete sich Hauptmann vor allem dem Drama, und hier entfaltete sich sein dichterisches Genie zu voller Blüte . Die Stücke sind aus dem modernen Leben gegriffen und haben wenig Handlung. Die meisten entscheidenden Ereignisse verlegt er vor den Beginn des Stücks oder in die Zwischenakte.
 
Vererbung und Milieu, nicht Charaktere führen das Geschehen, und Schlüsse ohne eigentliche Lösung beenden sie. Die Menschen stehen meist ohne Halt dem Schicksal gegenüber. In späteren Werken legt er das Hauptgewicht nicht mehr auf die Umweltschilderung, sondern auf die innere Entwicklung der Charaktere und wird zum Meister der Zeichnung seelischer Zustände.
 
"Vor Sonnenaufgang"
(Soziales Drama in 5 Akten, 1889)
 
Die Familie des schlesischen Bauerngutsbesitzers Krause ist ganz dem Trunke verfallen, nur die Tochter Helene blieb von diesem Laster verschont. Sie liebt den Sozialisten und Alkoholgegner Alfred Loth, der ihr als willkommener Retter aus dem Sumpf erscheint.
 
Loth erfährt jedoch vom Erblaster der Familie, und als überzeugter Anhänger moderner Vererbungstheorien kann er sich nicht entschließen, die Tochter eines Säufers zu heiraten. Er schreibt Helene einen Abschiedsbrief, diese sieht sich rettungslos in den Sumpf zurückgestoßen und gibt sich verzweifelt selbst den Tod.
Dieses Drama der Trunksucht und des Lasters entfesselte einen großen Theaterskandal in Berlin, lenkte aber die Aufmerksamkeit ganz Deutschlands auf den jungen Dichter, der darin eine unglaubliche Kühnheit und Kraft der Zustandsschilderungen und der Charakterisierung zeigte und in der naturalistischen Form noch weit über Holz hinausging.
 
Bemerkenswert sind allerdings auch die sehr umfangreichen szenischen Bemerkungen, die oft das Ausmaß selbständiger Schilderungen haben und nicht nur von Hauptmann, sondern auch von vielen modernen Dichtern (z. B. Arthur Miller, "Hexenjagd") bis heute verwendet werden.
 
"Die Weber"
(Schauspiel aus den vierziger Jahren, 1892)
 
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Dieses Werk wirkte aufrüttelnd und revolutionierend auf die ganze junge Dichtergeneration. Die konsequente Durchführung der naturalistischen Stilform und die schonungslose Anprangerung der sozialen Missstände der Zeit machten dieses Drama mit einem Schlage allgemein bekannt, und damit wurde Gerhart Hauptmann neben Ibsen zum Vorbild und Wegweiser der modernen Dichtung.
 
Entstehung
 
"Deine Erzählungen vom Großvater, der in jungen Jahren, ein armer Weber wie die Geschilderten, hinterm Webstuhl gesessen, ist der Keim meiner Dichtung geworden, die, ob sie nun lebenskräftig oder morsch im Innern sein mag, doch das Beste ist, was ein armer Mann wie Hamlet ist, zu geben hat."
 
Diese Worte stellt Gerhart Hauptmann seinem Drama voraus, das er seinem Vater gewidmet hat. Das Weberelend war ihm also aus der eigenen Familie - allerdings nur aus Erzählungen - bekannt, der Aufstand, den er in seinem Drama behandelt, ist historisch, nur veränderte der Dichter die Namen.
 
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Schlesische Weber, Gemälde von 1846
 
Inhalt
 
1. Akt
Im Expeditionsraum des Barchentfabrikanten Dreißiger zu Peterswaldau in Schlesien liefern die Weber ihre Arbeit ab und empfangen den kärglichen Lohn durch den Expedienten Pfeifer, der jede Gelegenheit benutzt, um Lohnabzüge zu machen. Die Not der Weber ist kaum mehr erträglich, es kommt zwischen ihnen und dem Fabrikanten zu einer Auseinandersetzung, der die Leute mit billigen Phrasen zu beruhigen trachtet.
 
2. Akt
In der ärmlichen Weberhütte arbeitet die ganze Familie fleißig, um nicht zu verhungern. Kaum reicht der Lohn zum Allernötigsten. Großvater Baumert hat seit zwei Jahren kein Fleisch mehr gegessen und schmort jetzt einen kleinen Hund im Topf. Moritz Jäger, ein Reservist, stark und selbstbewusst, erzählt den staunenden Webersleuten von dem sorgenlosen Soldatenleben. Er macht sie mit dem "Weberlied" bekannt, das sich gegen die kapitalistischen Arbeitgeber richtet, und aus der Verzweiflung erwächst der Entschluss der Weber: "Mir leiden's ni mehr, mag kommen, was will".
 
3. Akt
Die Weber sammeln sich in einer Wirtshausstube. Nun entlädt sich, was sich an Groll und Erbitterung in den langen Jahren in ihren Herzen angehäuft hat: die hungernden Weber singen das zündende Kampflied. Der Erregung steigert sich, als Gendarm Kutsche das Lied verbietet. Dem betrunkenen Gendarmen wird nicht gehorcht, die Weber beschließen, in Massen vor das Haus des Fabrikanten zu ziehen und Lohnaufbesserung zu verlangen. Auf der Straße singen sie das verbotene Lied weiter.
 
4. Akt
Bei Dreißiger ist gerade Gesellschaft, und man unterhält sich über soziale Gerechtigkeit, als vor dem Haus das verbotene Weberlied ertönt. Durch Färbereiarbeiter lässt Dreißiger den Hauptschreier Moritz Jäger festnehmen, aber die Weber befreien ihn, und die beiden erschienenen Polizeibeamten werden verprügelt. Darauf stürmt die tobende Menge das Haus, und, trunken von Rachegefühl, verwüsten sie die Wohnung - dem Fabrikanten und seiner Familie ist die Flucht gelungen.
 
5. Akt
Die Kunde vom Weberaufstand ist bis in die kleine Stube des alten Webers Hilse in Langenbielau gedrungen. Aus christlicher Überzeugung ist er gegen jede Gewalttat und verurteilt den Aufstand. Da trifft ihn eine verirrte Kugel des gegen die Aufständischen einschreitenden Militärs; die ungeordnete Masse braust vorüber und plündert das Haus des Fabrikanten Dietrich.
Handlung
Dem Drama fehlt der befriedigende Schluss, der unschuldige Hilse wird das Opfer, die Unternehmer sind geflüchtet, die chaotische Masse formiert sich zum Kampf, aber das Volk leidet weiter. Als Hauptmann anfangs 1892 die Weberdörfer in Schlesien selbst bereiste, um das Milieu zu studieren, fand er die Zustände seit dem Weberaufstand 1844 kaum viel verbessert. Auch hierin, und nicht nur in der naturalistischen Technik, mag der Grund liegen, dass so viele Fragen offen bleiben.
 
Form
Das Schauspiel besteht aus fünf lose aneinander gereihten Bildern, die weder durch die Einheit des Ortes noch durch einen Helden zusammengehalten sind. Verbindend wirkt allein das Elendmilieu, und das Weberlied bildet die lebendige Mitte. Held des Werkes ist das Volk der Weber, die leidende Masse - aber keine Einzelperson ragt aus dieser Masse hervor.
Auch in Schillers "Wilhelm Tell" ist das Volk der Held des Dramas, aber doch gibt es dort Helden, bewusst gestaltete Vertreter der verschiedenen Lebensalter usw., während Hauptmann scheinbar wahllos in die Masse greift und entsprechend der naturalistischen Theorie nur Ausschnitte aus dem wirklichen Leben darstellt.
 
Sprache
Das Werk wurde ursprünglich im schlesischen Dialekt geschrieben, der dann für die Bühnenaufführung dem Hochdeutschen angenähert wurde (Titel der Originalfassung "De Waber"). Von dem historischen Weberlied, das aus 25 Strophen besteht, hat Hauptmann die sieben wirkungsvollsten verwendet.
 
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Dialekt-Ausgabe (ursprüngliche Fassung): "De Waber"
 
Uraufführung 
1892 erschien die Buchausgabe, 1893 durfte das Stück nur als Vereinsaufführung der "Freien Bühne" in Berlin gespielt werden, erst 1894 erlebte es am Deutschen Theater die heftig diskutierte öffentlichen Aufführung. Vielfach sah man nur die sozialdemokratischen Tendenz, die Anklage des ausgebeuteten Arbeiters gegen den gewissenlosen Kapitalisten.
 
Das Werk ist aber viel mehr aus dem Gefühl des Mitleidens als aus trotziger Anklage heraus geschrieben worden. Hauptmanns dichterische Kraft bürgte dafür, dass das Stück über sozialrevolutionäre Tendenzen hinausging und zu einer echten menschlichen Tragödie wurde.
 
Bedeutung
"Die Weber" stellen den Höhepunkte des naturalistischen Dramas dar und waren das erste moderne Volksstück mit sozialen Charakter. Die Wirkung in sozialer wie auch in literarischer Hinsicht war eine außerordentlich große.
 
Weitere naturalistische Dramen Hauptmanns
(Auswahl)
  • "Kollege Crampton", Komödien in 5 Akten, 1892: Im Mittelpunkt der Komödie steht der geniale, aber versoffene Professor der Kunstakademie Crampton. Die Handlung ist nebensächlich, wichtig die genial gezeichnete Hauptgestalt, die immer eine dankbare Rolle für große Charakterschauspieler bilden wird.
  • "Der Biberpelz", Komödie in 5 Akten, 1892: Die beste Komödie des Naturalismus, sie beruht auf einer Verkehrung der Verhältnisse. Die scheinbar gute Mutter Wolffen begeht ein Verbrechen und führt die Obrigkeit hinters Licht, sodass diese ihr Verbrechen schützt.
  • "Fuhrmann Henschel", Schauspiel in 5 Akten, 1898: Ähnlich wie im "Bahnwärter Thiel" steht im Mittelpunkt des Werkes ein passiver Held, der durch sein schlechtes zweites Weib zum Selbstmord getrieben wird. Das Drama ist im schlesischen Dialekt geschrieben und zählt wegen seiner vortrefflichen Charakterzeichnung sowie wegen der Lebendigkeit der Zustandsschilderung zu den besten naturalistischen Dramen.
  • "Vor Sonnenuntergang", 1928: ein Spätwerk des Dichters - es schließt im Titel den Kreis zu seinem dramatischen Erstling "Vor Sonnenaufgang".
 
 
 
Quellen:
Schenk, I. (2015): DEUTSCH. Lehrbrief 27, Dr. Roland GmbH, 2. Auflage, Wien
Schenk, I. (2015): DEUTSCH. Lehrbrief 28, Dr. Roland GmbH, 2. Auflage, Wien
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