Theorie:

Viele Dichterinnen und Dichter des Impressionismus, aber auch des Symbolismus und der Neuromantik, zeigen in ihren Werken schon expressionistische Züge, auch manche Personen aus der Philosophie und Psychologie wurden zu den Vorbereitern dieser Richtung.

Klare Trennungslinien hier zu ziehen ist unmöglich. Es sollen in diesem und im nächsten Kapitel nur zwei Dichter angeführt werden, deren Einfluss ganz besonders bedeutend war, sowohl auf die Zeitgenossen wie auf die Nachwelt: August Strindberg und Frank Wedekind.

August Strindberg 
Strindberg wurde bereits als wichtige Persönlichkeit des Naturalismus und des Symbolismus genannt, es finden sich aber vor allem in seinem Spätwerk auch sehr starke expressionistische Züge, ja, sein dreiteiliges Drama "Nach Damaskus" wurde sozusagen zur Keimzelle des expressionistischen Dramas überhaupt.
 
Zum besseren Verständnis des Spätwerkes Strindbergs seien hier noch einige Betrachtungen zu seiner Weltanschauung vorausgeschickt. Strindberg wusste nicht nur zutiefst um die Tragik des Daseins, sondern er lebte sie selbst, er sah die Nachtseiten nicht nur, sondern er wanderte in ihnen, er verstärkte ihr Dunkel durch eigene Tat und durch eigenes Erwirken.

Er fühlte in sich selbst seinen Dämon rasen, der ihm jede Ruhe und jede ruhige Hingabe unmöglich machte. In seiner pessimistischen Grundhaltung kennt er auch keine Erlösungsgewissheit an, höchstens eine ganz ferne Erlösungshoffnung. Dadurch, dass er kaum eine Aussicht auf ein Drüben, auf eine befreite Welt, wach werden lässt, kennt er auch kein Glück im Leben und seine Menschen erscheinen wie eingemauert.
 
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Seiner Kunst wie auch seinen Figuren fehlt der freie, kraftvolle Schwung und das willensstarke, eigenmächtige Handeln aus sich selber. Es ist kein Hauch von eigenem Willen und durch Freiheit errungene Erlösung spürbar.

Die alltäglichen Vorkommisse des Lebens, denen wir anderen keine besondere Bedeutung beimessen, sondern die wir aus der gewöhnlichen Gesetzlichkeit des Daseins ableiten, erhöhen sich zu unheimlichen Mächten, werden zu Dämonen, die von einer schauerlichen Realität erfüllt sind.

In "Inferno" gestaltet der Dichter jene geheimnisvolle Urmacht, der wir alle ausgeliefert sind, die immer und unermüdlich hinter uns her ist und vor der keine Flucht hilft. Wir finden hier schon Züge von Kafkas gehetztem Josef K. aus dem "Prozess".

Kein freundlicher Humor bringt etwas Licht in die Finsternis, Strindberg selbst besaß nicht die mindeste Gabe zum Verständnis und zu Würdigung humorvoller Situationen oder humorvoller Gespräche. Ereignete sich in seiner Gegenwart ein heiteres Vorkommnis, so fragte er die Anwesenden ganz erstaunt, worüber sie eigentlich lachten. Darin unterscheidet er sich grundsätzlich von Wedekind, der viel Sinn für Humor hatte und ihn auch in seinen Dramen zeigt.

Zwischen den Menschen seiner Romane und Dramen herrscht fast überall eine Atmosphäre giftigster Gehässigkeit, doch sind die Menschen nicht im objektiven Sinn schlecht, sie werden zu ihrem Tun wie von außen gepeitscht. Sie müssen einander quälen, kränken, einander zur Last oder zum Verhängnis sein, nicht darum, weil sie es unmittelbar wollen, sondern weil sie dazu gezwungen werden.

Die Geschlechter, Mann und Frau, sind nicht die für einander geborenen Helfer, sondern Feinde von Anfang an, alle Liebe ist im Grunde nur Hass. Zu lösen vermochte Strindberg das Problem der Geschlechter in seinen Werken - und in seinem Leben - nie.

E. T. A. Hoffmann, Edgar Allan Poe und der schwedische Seher Emanuel Swedenborg beeinflussten Strindberg entscheidend bei der Abfassung seiner letzten Werke, bei denen Traum und Wirklichkeit ineinanderspielen: "Ein Traumspiel" und "Nach Damaskus".
  
Strindbergs Leben und Werke waren geprägt von der Tragik des Daseins, einer pessimistischen Grundhaltung. Seinen Werken fehlt jeglicher Humor, seinen Figuren jedes eigenmächtige Handeln. Sie werden von außen dazu gezwungen, einander zu quälen und zu kränken.

Das Drama "Nach Damaskus" wurde zur Keimzelle des expressionistischen Dramas überhaupt. 
  

Das neue Drama
Abstraktion, Typisierung und lange Monologe kennzeichnen das neue Drama. Das Bekenntnishafte tritt hervor, Raum und Zeit existieren nicht mehr, in Stationen rollt die Handlung ohne Grund und Folge ab, eine Form, die dem expressionistischen Drama eigen ist. Die Bühnenanweisungen sind nicht mehr technischer Behelf, sondern erregender Bestandteil der Dichtung.
"Nach Damaskus"
 
 
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Damaskus um 1900; Der Titel des Dramas ist symbolisch zu verstehen
 
Ein dreiteiliges dramatisches Werk, dessen symbolischer Titel den "Weg der Bekehrung" andeutet. Von der Stimmung des Traumlebens umworben, kann eine große Anzahl der Vorgänge von der Wirklichkeit ausgehend gar nicht gedeutet werden, sondern hat ganz und gar das fantastische, unreale Gepräge des Traumbildes.

Der Held der Trilogie, "der Unbekannte", weiß oft nicht, ob er einem Gaukelbild seiner Fantasie oder einem wirklichen Geschehen gegenübersteht.

Der 1. Teil beginnt an einer Straßenecke und führt den Weg der Enttäuschungen über die vielen Stationen des Lebens ins Ungewisse und endet wieder an derselben Straßenecke.

Der 2. Teil behandelt den Kampf gegen Gott und dessen scheinbare Ungerechtigkeit.

Der 3. Teil bringt die Wanderung zum Kloster und den Frieden mit Gott.
 
Die Gestalten sind durchwegs typisch, also ganz im Stile des Expressionismus: "Der Unbekannte", "Die Dame", "Der Versucher" usw.

Der Dichter ist auf der Suche nach dem Urbild der Dinge, der Erde, der Seele. Er entdeckte die Irrealität der Dinge und war bestrebt, im Spiele der Zufälligkeiten das Bleibende aufzudecken.

 
"Ein Traumspiel"
zeigt in tief symbolischer Handlung die Tochter des Gottes Indra, die vom Himmel auf die Erde niedersinkt, um ihre Prüfungen zu bestehen, um dann wieder durch das Läuterungsfeuer zurückzukehren.
 
 
Quellen:
Schenk, I. (2015): DEUTSCH. Lehrbrief 30, Dr. Roland GmbH, 2. Auflage, Wien
https://commons.wikimedia.org/wiki/File%3AAugustStrindberg.jpg (10.6.2016)
https://commons.wikimedia.org/wiki/File%3ADamascus1900.jpg (10.6.2016)