Theorie:

 1. Epik

Alfred Döblin (1878 - 1957)
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Döblin stammt aus Stettin, lebte seit 1911 als Nervenarzt in Berlin, emigrierte 1933 über Frankreich in die USA und kehrte 1945 wieder nach Deutschland zurück. Er war Mitarbeiter der expressionistischen Zeitschrift "Der Sturm" und hatte schon lange, bevor die Tendenzen der Ausdruckskunst literarisch in Erscheinung traten, diesen Weg beschritten. Vor allem suchte er neue Formen für den Roman zu finden.

"Berlin Alexanderplatz" 
Inhalt: der Berliner Transportarbeiter Franz Biberkopf wurde aus dem Gefängnis entlassen und will ein anständiger Mensch werden. Trotz der besten Vorsätzen gerät er in das Milieu der Großstadtunterwelt.

Döblin will hier ein Einzelschicksal als Kollektiv gestalten, die Hauptperson steht für alle Arbeitenden. Diesen Weg geht er mit ganz neuen sprachlichen Mitteln: wie in einem Film leuchten die Szenen auf und rollen ab, reportagenhaft versucht er das pulsierende Leben der modernen Großstadt einzufangen und zwischen dem kleinen Ich des Menschen und der großen, unübersichtlichen Masse einen Ausgleich zu finden.

Eine kleine Sprachprobe aus diesem eigenartigen psychologischen, soziale Verhältnisse spiegelnden Roman:

"Ruller, ruller fahren die Elektrischen, Gelbe mit Anhängern, über den holzbelegten Alexanderplatz, Abspringen ist gefährlich. Der Bahnhof ist breit freigelegt, Einbahnstraße nach der Königsstraße an Wertheim vorbei. Wer nach dem Osten will, muss hinten rum am Präsidium vorbei durch die Klosterstraße. Die Züge rummeln vom Bahnhof nach der Kannowitzbrücke, die Lokomotive bläst oben Dampf ab, gerade über dem Prälaten steht sie, Schlossbräu, Eingang eine Ecke weiter. - Über den Damm, sie legen alles hin, die ganzen Häuser an der Stadtbahn legen sie hin, woher sie das Geld haben, die Stadt Berlin ist reich, und wir bezahlen die Steuern ..."


Das Thema der Technik greift Döblin in den Romanen "Wadzeks Kampf mit der Dampfturbine" und "Meere, Berge und Giganten" auf, der Dichter warnt vor Missbrauch der Technik, Mechanisierung und Barbarei.

Heinrich Mann (1871 - 1950)
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Heinrich Mann (li) und sein Bruder Thomas (re)
 

Aus Lübeck, ist der Bruder Thomas Manns (siehe: Literatur der Jahrhundertwende). Studienjahre in Frankreich und Italien brachten ihm den romantischen Geist nahe. Er lebte dann in Berlin und wendete sich in satirischer Weise gegen das satte deutsche Spießbürgertum. Nach dem Weltkrieg befasste er sich eingehend mit dem russischen Kommunismus. 1933 emigrierte er über Frankreich in die USA.
 
Heinrich ist mehr Romantiker als Thomas, stofflich jedoch stark im Naturalismus verhaftet, dessen gesellschaftskritische Züge er in sein Werk aufnimmt. Der Stil Heinrich Manns ist farbiger und üppiger als jener des liebenswürdigen und ethisch betonten Thomas. Dieser bezeichnete seinen Bruder als "Zivilisationsliteraten", dem die Ehrfurcht vor der organisch gewachsenen geistigen Tradition fehlt, denn Heinrich ist ein Desillusionist und ein großer Spötter seiner Zeit.

Neben zahlreichen großen Romanen schrieb Heinrich Mann noch eine Anzahl Novellen und Essays.

"Professor Unrat"

Dieser Roman wurde in der Verfilmung unter dem Namen "Der blaue Engel" mit Emil Jannings und Marlene Dietrich ein Welterfolg. Mann richtet seinen Angriff gegen das humanistische Gymnasium, in dem er ein Hemmnis der freien Geistesbildung sieht.

"Die Göttinnen" oder "Die drei Romane der Herzogin von Assy"
behandeln das Schicksal der dalmatinischen Herzogin Violante von Assy, die ihrem Leben im Jagen nach Herrschaft, Schönheit und Liebe Inhalt bieten möchte. Sie ist zuerst keusch wie Diana, dann geistig wie Minerva, und zuletzt glühend triebhaft wie Venus. Eine verderbte Welt voll Reichtum, Macht, Wildheit, ungezügelter Sinnlichkeit, Verwüstung und Verruchtheit ersteht hier, ins fast Groteske verzerrt.
  
Die Trilogie "Das Kaiserreich", bestehend aus "Der Untertan", "Die Armen" und "Der Kopf" ist eine radikale politische Satire.
 
2. Dramatik

Groß war der Einfluss des expressionistischen Theaters in Deutschland, das nicht nur von der Dramatik her, sondern auch von der Bühnengestaltung und der Schauspielkunst aus vollkommen neue Wege beschritt. Hier wurde das Tor zu neuen großen revolutionären und sozialen Ideen aufgestoßen, die noch weit gehenden Einfluss auf das deutsche Geistesleben und die Politik haben sollten.
 
Reinhard Johannes Sorge (1892 - 1916)
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Der junge Berliner, der an der Westfront des Ersten Weltkrieges fiel, sehnte sich aus dem Materialismus der Gegenwart nach einer Welt wahrer Gläubigkeit. Er ist ein Dichter des religiös-inbrünstigen Suchertums, alles wird ihm zum Symbol.

Im Bestreben, eine neue dramatische Kunst zu schaffen, verlässt er die üblichen Gesetze des Theaters, seine Dramen sind lyrische Monologe, Traumvisionen, in denen sich Wirkliches mit Unwirklichem vermischt. Die Bühne soll zur Kultstätte werden. Sorge wurde zum Bahnbrecher des mystisch-expressionistischen Dramas.

"Der Bettler"
In dieser bilderreichen, visionären Dichtung stellt Sorge in lyrisch-ekstatischem Stil und einer symbolhaften Handlung einen jungen Dichter dar, der an Wahnideen zu Grunde geht, alles Leibliche und Gegenständliche aufgibt, sich von seiner Zeit, seiner Familie und seinem Werk löst und Bettler wird, dem schließlich nichts mehr bleibt als ein mystisches Gedankenleben ohne Furcht und die Treue seines Mädchens.
 
Carl Sternheim (1878 - 1942)

Sternheim war ein Bankierssohn aus Leipzig. Er stand in der unmittelbaren Nachfolge Wedekinds und betrachtet sich als "Arzt am Leibe seiner Zeit". Dabei ging es ihm aber weniger um die Heilung als um die Aufzeichnung der sozialen Gebrechen.

In einer von ihm aus preußischem Offiziersdeutsch und einem französisierenden Übersetzerdeutsch gebildeten expressionistischen Sprache greift er in intellektuell-kühler Art, die jeder Romantik entbehrt, das Bürgertum an, das für ihn Träger der Reaktion ist.

Er ist ein großer Desillusionist und Satiriker, der ironisch seinen Diskussionskomödien den Gesamttitel "Aus dem bürgerlichen Heldenleben" gab. Einzelne Werke sind "1913" und "Die Hose", wobei er die Gesellschaft und deren Moralbegriffe ironisiert. Das finanzkräftige Großbürgertum - seine eigene Klasse - kam bei ihm am besten weg.

Georg Kaiser (1889 - 1945)

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Kaiser stammte aus Magdeburg, verbrachte Jahre in Südamerika und kehrte von dort malariakrank zurück. 1933 zum Schweigen verurteilt, emigrierte er und starb 1945 in der Schweiz. Kaiser gilt mit seinem ungemein reichen Lebenswerk als die führende Persönlichkeit der expressionistischen Dramatik.

Wie Sternheim war er intellektuell eingestellt, aber das Feuer der Leidenschaft durchglüht seine Werke. Mit dialektischer Kunst behandelt er in seinen Dramen das tragische Verhängnis der europäischen Zivilisation, die Vergewaltigung des Geistes und der Seele durch die Mechanisierung - Mensch und Zivilisation stehen im Gegensatz.

Kaisers Sprache ist gänzlich unlyrisch, holzschnittartig knapp, die Sätze sind oft unvollständig wie im Telegrammstil, Nebensatzkonstruktionen erscheinen auf ein Mindestmaß beschränkt. Die straff gebauten Dramen greifen über das Schicksal der einzelnen Menschen hinaus ins Typisierende, in das allgemeine Schicksal.

Geschichte, Bürgertum, soziales Milieu und schließlich Mythos und Sage sind die Stoffbereiche, aus denen der Dichter schöpft, wobei ihm die Quellen aber nur als Vorwand dienen, seine Ideen von der Erneuerung des Menschen darzustellen. Schon 1913 gelang ihm sein wohl bestes Werk:

"Die Bürger von Calais"

Die Uraufführung 1917 leitete eine neue Epoche des deutschen Dramas ein und wurde das Muster expressionistischer Technik in Idee, Sprache und Gestaltung.

Inhalt 

Der Hundertjährige Krieg zwischen England und Frankreich bildet den historischen Hintergrund. Die Stadt Calais ist von den Engländern eingeschlossen, das französische Entsatzheer geschlagen, der König selbst gefallen - die Lage ist hoffnungslos. Der englische König will nur dann der besiegten Stadt Gnade gewähren, wenn ihm sechs Bürger im Büßergewand, mit dem Strick um den Hals, barhäuptig und barfuß, die Schlüssel der Stadt bringen.

Für diese schwere Mission melden sich aber sieben Männer - und um diesen einen, der nun nicht sterben müsste, geht das Spiel. Nachdem eine Entscheidung durch das Los ergebnislos verlaufen ist, weil Eustache de Saint Pierre lauter gleiche Kugeln verteilt hat, soll derjenige frei ausgehen, der sich am nächsten Morgen als letzter einfindet.

Die sechs Männer kommen, nur Eustache fehlt. Er hat sich selbst getötet, damit keiner von dem Opfer ausgeschlossen werde. Die Bürger ziehen nun ins Lager der Engländer; der König lässt Gnade walten, denn ihm wurde eben ein Sohn geboren. Er sinkt vor dem aufgebahrten Eustache als seinem Überwinder nieder. Die Zeit des ritterlichen Heldentums, der zerstörenden Gewalt ist vorbei, es siegt die Neue Zeit, der opferbereite neue Mensch.

 
Zwei Probleme versucht der Dichter hier im Sinne der expressionistischen Erneuerungstechnik zu lösen: das Problem der Ehre und das Problem der Tat. Nur der freie Entschluss hat den sittlichen Wert, geschieht das Opfer für die Gemeinschaft nur aus Pflichtgefühl, so ist es eine ruhmlose Tat.

Eustache de Saint Pierre ist die Verkörperung des "neuen Menschen", der sein passives Heldentum mit der selbstlosen Tat krönt und kraft seines eigene Opfers die Mitmenschen zu läutern vermag.

Die Gruppe des französischen Bildhauers Auguste Rodin "Die Bürger von Calais" (entstanden 1884 - 1886), aufgestellt zur Erinnerung an die Belagerung der Stadt vor dem Rathaus in Calais, bot Kaiser wahrscheinlich die Anregung zu dem Drama.
 
 
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Inspiration für das Drama war vermutlich die Plastik "Die Bürger von Calais" von August Rodin


Weitere Werke
  
In über fünfzig Bühnenwerken versuchte der Dichter seine Grundidee vom "neuen Menschen", dessen Verantwortungsbewusstsein gegenüber der Gemeinschaft und seinen "Aufbruch aus der engen Daseinsform" immer wieder abzuwandeln und ihr neue Seiten abzugewinnen. ("Von morgens bis mitternachts", "Zweimal Oliver" u. a. m.)

Den Weg vom Einzelmenschen zur Gesellschaft zeigt Kaiser in den großen sozialen Dramen, in deren Mittelpunkt die Tragödie "Gas" steht. "Die Koralle", "Gas I." und "Gas II." bringt nicht nur eine neue expressionistische Gestaltung des Vater-Sohn-Konfliktes, sondern auch die große Tragödie, dass die tiefste Wahrheit immer nur ein Einzelner findet, dem es aber nicht gelingt, die Mitmenschen aus der Verkümmerung ihres Sklavendaseins zu befreien.
 
Das zum größten Teil in der Emigration entstandene Spätwerk des Dichters ist eine einzige Anklage wider die zerstörenden Gewalten in Europa: "Das Floß der Medusa", "Der Soldat Tanaka". Hier rechnet Kaiser mit den politischen Machthabern in Deutschland ab.

Am Ende seines Lebens sinkt der Verkünder des "neuen Menschen" in tiefste Resignation und mag daran zweifeln, ob die Durchführbarkeit seiner Erneuerungsidee im Bereich des Menschlichen überhaupt möglich ist - nach den Ereignissen, die die jüngste politische Entwicklung gebracht hatte.

Zuletzt wird noch eine Textprobe aus den "Bürgern von Calais" als Beispiel für Kaisers typisch expressionistische Sprache angeführt (der Vater Eustache de Saint Pierres an der Bahre mit seinem toten Sohn):

"Schreit hinaus - in das Licht - aus dieser Nacht. Die hohe Helle ist angebrochen - das Dunkel verstreut - Von allen Tiefen schließt das sieben Mal silberne Leuchten - de unge- heure Tag der Tag ist draußen! - - (Eine Hand über die Bahre streckend) Er kündigt von ihm - und pries von ihm - und harrte mit frohem Übermute der Glocke, die zu einem Feste schwang - - dann hob er den Becher mit seinen sicheren Händen vom Tisch und trank an ruhigen Lippen den Saft, der ihn verbrannte. Ich komme aus dieser Nacht - und gehe in keine Nacht mehr. Meine Augen sind offen - ich schließe sich nicht mehr. Meine blinden Augen sind gut, um es nicht mehr zu verlieren: - ich habe den neuen Menschen gesehen - in dieser Nacht ist er geboren! - - Was ist es noch schwer - hinzugehen? Braust nicht schon neben mir der Stoßende Strom der Ankommenden? Wogt nicht Gewühl, das wirkt - bei mir - über mich hinaus - wo ist das Ende? Ins schaffende Gleiten bin ich ge- setzt - lebe ich - schreite ich von heute auf morgen - unermüdlich in allen - unvergänglich in allen ..."

Weitere expressionistische Dramatiker

 

  • Fritz von Unruh (1885 - 1970): stammte aus Koblenz und war eine der größten Begabungen des Expressionismus. In seinem Frühwerk setzte er sich mit den Grenzen der militärischen Pflichterfüllung auseinander. Nach dem ersten Weltkrieg wandte sich der ehemalige Offizier vom Preußentum ab und wurde Pazifist und Demokrat. Mit leidenschaftlichem Pathos bekämpfte er nun Krieg, Macht und preußische Traditon.
  • Walter Hasenclever (1890 - 1940): stammte aus Aachen, er war ein revolutionärer Dichter des extremen Expressionismus, der mit ekstatischen Stilmitteln den Schrei der gequälten Seele formt.
  • Ernst Toller (1893 - 1939): aus Bromberg; er schrieb - berauscht von der sozialistischen Idee und von Menschheitsverbrüderungsgedanken - agitatorisch-ekstatische Dramen, bei denen die Verdammung des Krieges und der Aufruf zum Frieden die Grundideen bilden.
  
 
Quellen:
Schenk, I. (2015): DEUTSCH. Lehrbrief 30, Dr. Roland GmbH, 2. Auflage, Wien
https://commons.wikimedia.org/wiki/File%3AAlfred_Doeblin_1930.jpg (15.6.2016)
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https://commons.wikimedia.org/wiki/File%3ARJSorge1.jpg (15.6.2016)
https://commons.wikimedia.org/wiki/File%3AGeorg_Kaiser.jpg (15.6.2016)
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Auguste_Rodin-Burghers_of_Calais_London_(photo).jpg (15.6.2016)