Theorie:

Französischer Naturalismus
Schon früh, vor allen anderen Europäern, verfolgten französische Schriftsteller die Tendenz, die später zum Schlagwort der ganzen Epoche wurde: unbedingte Wahrheit.
Die bedeutendsten Vertreter des französischen Naturalismus waren:
  • Honoré de Balzac und Gustave Flaubert als Vorläufer
  • Émile Zola auf dem Gebiet des Romans (siehe Theoriekapitel 7) 
  • Guy de Maupassant als Novellist
Honoré de Balzac (1799 – 1850)
Er stand mit seinen Werken am Beginn des französischen Naturalismus. Mit 20 bricht er das aufgezwungene Jus-Studium ab und wird freier Schriftsteller.
 
10 Jahre lang schreibt er erfolglos Romane, unter einem Pseudonym, macht schließlich auf Grund unglücklicher Geschäfte Bankrott. Zur gleichen Zeit erfolgt sein literarischer Durchbruch mit den Romanen "Eulen" (Aufstand zweier Provinzen gegen die Französische Revolution) und der "Frau von 30 Jahren" (erstmals Typ der unverstandenen Frau in der europäischen Literatur), die unter seinem Namen erscheinen.
 
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Fasziniert von der Gesamtheit menschlicher Existenz, die er in Paris in allen Variationen vorfindet, beginnt er die Arbeit an der Romanserie "La Comédie humaine" (die menschliche Komödie), deren Titel als Gegensatz zu Dantes "Göttlicher Komödie" zu verstehen ist. Balzac schildert in den 74 (!) Romanen Menschen aller sozialer Schichten, denen die Jagd nach Geld zum Lebensinhalt geworden ist.
 
In epischer Breite, mit Humor und beißender Ironie werden Laster, Sehnsucht und Schwächen der in Umbruch begriffenen bürgerlichen Gesellschaft der Seine-Metropole herausgearbeitet. Interessant ist, dass Balzac die deutsche Kunst (Goethe!) dem Verfall Frankreichs entgegenstellt (er liebte eine Frau deutscher Abkunft, in der er alles Edle verkörpert sah, und heiratete eine Polin, für die er sich finanziell ruinierte).
 
Meisterwerke:
  • "Eugènie Grandet" (1832)
  • "Vater Goriot" (1835)
  • "Cousine Bette" (1847)
 
Weitere Vorläufer
 
Gustave Flaubert (1821 – 1880)  
suchte die Tragik im Alltagsleben. Die Heldin seines Sittenromans "Madame Bovary" hat in der Ehe mit einem kleinen Landarzt nicht die Erfüllung ihrer romantischen Träume gefunden, sucht die Poesie bei anderen Männern und zerbricht schließlich an der rauen Wirklichkeit: sie scheidet freiwillig aus dem Leben.
 
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Gustave Flaubert
 
Eugène Sue
schildert mit Vorliebe das Elend der unteren Klassen in seinem Hauptwerk, dem Roman "Les mystères de Paris" ("Die Geheimnisse von Paris").
 
Die Brüder Edmond und Jules de Goncourt
malten in ihren Romanen eingehend das Elend des Proletariats: sie schilderten mit typisch naturalistischer Genauigkeit das Laster und die Verkommenheit der Straßendirnen und der dem Trunke ergebenen Arbeiter.
 
Gemeinsam ist allen diesen Dichtern, dass sie ihre Gestalten dem Alltag entnehmen und objektiv die Schattenseiten des modernen Lebens beleuchten und auch vor der Schilderung der grässlichsten Not, des Lasters und der Krankheit nicht zurückschrecken.
Die künstlerische Vollendung dieser Richtung erlangte schließlich der Romanschriftstellter Émile Zola (siehe Theoriekapitel 7).
 
  
Guy de Maupassant
Maupassant gilt als der Meister der naturalistischen Novelle. Auch er zeichnet mit schärfster Beobachtungsgabe den Menschen mit all seinen Unzulänglichkeiten und seiner Selbstsucht und seiner Jagd nach dem Glück, das er nahezu immer in materiellen Güter sieht.
 
Durch Objektivität und scharfer Hervorhebung der charakteristischen Merkmale zeichnet sich Maupassant vor allen übrigen Naturalisten, ja selbst vor Zola, aus.
 
Maupassant schrieb ca. 300 Novellen, die größtenteil das Thema "Eros" in allen Schattierungen umfassen. Charakteristisch ist die kurz vor Schluss aufscheinenden Pointe, die fast dramatisch wirkt und den Leser fesselt.
 
Von seinen sechs Romanen ist "Bel ami", 1885, der berühmteste (Verfilmung!): Gesellschaftlicher Aufstieg eines unbedeutenden Mannes durch Frauen, die seinem Charme erliegen.
 
Wie mehrere seiner Verwandten verfiel auch er dem Wahnsinn und starb nach einem Selbstmordversuch in einer Anstalt.
 
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"La Parure" (Der Schmuck)
In einer seiner bekanntesten und besten Novellen schildert Maupassant einen verhängnisvollen Ball-Besuch:
Die Frau eines kleinen Beamten borgt sich von einer Freundin ein Diamantenkollier, dessen Verlust sie nach dem Ball entsetzt feststellt.
  
Die Eheleute müssen sehr viel Geld aufnehmen, um ein ähnliches Schmuckstück erstehen zu können und dieses der Freundin zurückstellen, die von dem Verlust nichts weiß. Nach zehn Jahren harter Arbeit und größter Entbehrungen haben endlich die beiden alle Schulden beglichen. Aber die schönsten Jahre des Lebens waren damit verloren: die arme Frau abgehärmt und gealtert, der Mann verbittert.
 
Da trifft sie nun eines Tages die Freundin und erfährt, dass der seinerzeit verlorene Schmuck nur eine wertlose Imitation gewesen ist.
Wie Zolas Romane haben auch Maupassants Novellen und die Werke anderer französischer Erzähler mächtig auf das deutsche Schrifttum gewirkt.
 
Quellen:
 
Schenk, I. (2015): DEUTSCH. Lehrbrief 26, Dr. Roland GmbH, 2. Auflage, Wien
https://commons.wikimedia.org/wiki/File%3AHonor%C3%A9_de_Balzac_(Stories_By_Foreign_Authors).png (9.5.2016) 
https://commons.wikimedia.org/wiki/File%3AGustave-Flaubert2.jpg (9.5.2016) 
https://commons.wikimedia.org/wiki/File%3AGuy_de_Maupassant_fotograferad_av_F%C3%A9lix_Nadar_1888.jpg (9.5.2016)