Theorie:

Sprache und Technik
Der neue Inhalt der Dichtung erfordert auch eine neue sprachliche Form. Das hohle Pathos gehörte endgültig der Vergangenheit an, der sprachliche Ausdruck wurde individuell gestaltet, dem Stande, der Bildung, der augenblicklichen Stimmung des Sprechenden angepasst. Die gebundene Sprache galt als verpönt, dafür gewann die Mundart an Bedeutung.
 

Allerdings ließ sich der Naturalismus auch in dem Bestreben, möglichst weit gehende Wirklichkeitstreue zu erzielen, dazu verleiten, die Sprache des Alltags mit all ihren Nachlässigkeiten, ja sogar die Sprache der Gosse, in die Literatur aufzunehmen.

Das Drama

Das naturalistische Drama will einen Ausschnitt aus dem Leben bieten und vermeidet alles, was nicht lebenswahr und wirklich ist. Dazu gehören die wirksamen Aktschlüsse, die Steigerung der Handlung bis zum Höhepunkt und das Herabsinken zur Katastrophe, es fehlen die Monologe, das Beiseitesprechen, ja man versucht sogar, ohne den Bühnenvorhang auszukommen.

An Stelle des strengen Aufbaus bestimmen die unentrinnbare Umwelt und der Zufall den Ausgang der Handlung. Man bevorzugte Aktschlüsse, die scheinbar unbefriedigend sind, auch bringt das Drama oft keine Lösung der aufgeworfenen Probleme, sondern lässt sehr ernste Fragen offen.

Man meidet auch die bisher üblichen Bezeichnungen, wie "Schauspiel", "Trauerspiel", "Akt" usw., sondern spricht von einem "Totengedicht", einer "Familienkatastrophe", einer "Diebeskomödie", von "Handlungen", "Vorgängen" usw.

Der Roman
Der Umfang und das Spannende der Handlung treten zurück, dafür wird für die Einzelbeschreibung und die Milieuschilderung eine geradezu peinliche Genauigkeit aufgewendet. Vom Dichter wird die sorgfältigste Beobachtung – nicht nur des Wesentlichen, sondern auch des Unwesentlichen – verlangt.
 
Die Sprache soll natürlich und frei von herkömmlichen Romanphrasen sein. Ausdrücke aus der Umgangssprache, der Mundart und sogar Schallnachahmungen finden ihren Eingang. Die Sätze sind nicht mehr lang und stilistisch kunstvoll gegliedert: in kurzen, oft unvollständigen Sätzen, Satzbrocken, einem oft stammelnden Stil und den zahlreichen Gedankenstrichen zittert die Nervosität und Hast der Zeit, die den Gedanken nur abgerissen Ausdruck zu verleihen vermag.
Die Lyrik
Auch hier sucht man alles Herkömmliche, sei es in Bezug auf Reim und Vers oder auf Strophenbau, zu sprengen. Freie Rhythmen und sogar Prosa werden verwendet. Gefühlsüberschwang und stille Beschaulichkeit sind dem naturalistischen Lyriker fremd, am liebsten spricht er von Lebensmüdigkeit und Lebenstrotz.
 
Gerade in dieser Dichtungsgattung zeigten sich aber bald die Spuren einer veränderten Lebensanschauung, die sich von dem krassesten Naturalismus abwendete.
Alles in allem fehlt dem Naturalismus das Befreiende, Erhebende und Versöhnende der echten Poesie.
 
 
Quellen:
Schenk, I. (2015): DEUTSCH. Lehrbrief 26, Dr. Roland GmbH, 2. Auflage, Wien